Fachgutachten
Die Bedeutung des impliziten und expliziten Gedächtnisses in der Psychotraumatologie
Laut dem Konzept multipler Gedächtnissysteme wird das Langzeitgedächtnis in fünf verschiedene Gedächtnissysteme unterteilt (Tulving, 2005; Markowitsch, 2008; Piefke, 2008a): Das prozedurale Gedächtnis und das Priming System (implizites Gedächtnis) sowie das perzeptuelle, das semantische und das episodische Gedächtnis (explizites Gedächtnis). Das präzeptuelle Gedächtnis funktioniert auf der präsemantischen Stufe, das semantische Gedächtnis dient der Informationsverarbeitung und beinhaltet die bisher erworbenen Fakten über die Welt. Das episodische Gedächtnis umfasst das bewusste Erinnern von Ereignissen mit zeitlicher und räumlicher Einordnung in den jeweiligen Kontext. Bezüglich des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses dient dieses dem Erinnern und Wiedererleben eigener lebensgeschichtlicher Ereignisse. Durch seine rekonstruktive Funktionsweise macht es die Rekonstruktion einer persönlichen Vergangenheit sowie die Fähigkeit zur Zeitwahrnehmung möglich (Markowitsch, 2005). Für die Emotionsverarbeitung, das implizite und das explizite Gedächtnis, weist das limbische System eine Schlüsselrolle auf. Dem limbischen System zugehörig sind die Amygdala, die septalen Kerne und das Gyrus cinguli, die eine zentrale Rolle bei der Emotionsverarbeitung spielen. Ebenfalls im limbischen System angesiedelt sind der Hippocampus und weitere limbische Strukturen, die für die Einspeicherung und Konsolidierung von Informationen zuständig sind (Markowitsch & Piefke, 2008; Piefke & Markowitsch, 2008a-c). Daraus lässt sich schließen, dass Gedächtnis- und Emotionsverarbeitung auf neuroanatomischer und neurofunktioneller Ebene stark integriert sind. Zudem wird die Verarbeitung von Emotionen durch neokortikale und besonders präfrontale Strukturen gesteuert (z.B. Amygdala, Hypothalamus). Die Bedeutung der anatomischen und funktionellen kortiko-subkortikalen Integration präfrontaler und limbischer Strukturen, die emotionales und soziales Verhalten regulieren, ist durch Studien belegt worden (Cunningham et al., 2002; Killgore et al., 2001). Die Bildung neuroanatomischer und neurofunktioneller Verknüpfungen ist erfahrungsabhängig und spielt somit eine entscheidende Rolle für die Entstehung psychiatrischer Symptome nach überwältigenden emotionalen Erlebnissen.
Das Gehirn weist ein hohes Ausmaß neuronaler Plastizität auf, welche besonders in der Kindheit stark ausgeprägt ist. Genetische, biologische und umweltbedingte Faktoren beeinflussen die Ausformung anatomischer und funktioneller Charakteristika. Die postnatale funktionelle Reifung des zentralen Nervensystems (ZNS) ist somit kein passiver sequentieller Prozess, sondern eine aktive von Erfahrungen abhängige Entwicklung, die durch genetisch-biologische Dispositionen gesteuert und begrenzt wird (Johnson, 2001; Singer, 2003). Aufgrund der hohen Plastizität in der Kindheit haben besonders soziale und emotionale Erfahrungen einen prägenden Einfluss auf das Gehirn. Die limbischen Strukturen mit ihren Schlüsselfunktionen für die Emotionsverarbeitung sind besonders vulnerabel für intensive emotionale Erlebnisse und soziale Stressoren. Aus frühen emotionalen Traumata oder andauernder kognitiv-emotionaler Vernachlässigung können vorübergehende oder längerfristig persistierende psychopathologische und manifeste psychiatrische Erkrankungen entstehen. Gewalterfahrungen in der Kindheit können zu Posttraumatischen Belastungsstörungen, psychogenen Amnesien, Persönlichkeitsstörungen und weiteren affektiven Erkrankungen führen (Heim & Nemeroff, 2001; Pollak, 2003).
Eine direkte Reaktion auf ein belastendes Ereignis (z.B. Gewalterfahrungen, schwere Unfälle, Kriegserfahrungen, Naturkatastrophen) kann eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) sein. Bei der PTSD kann es zu einer Gedächtnissymptomatik im Sinne von wiederholtem Erleben des Traumas („Flashbacks“ oder Träume) sowie Dissoziationen oder Derealisationen, bei denen die Betroffenen vollständig oder teilweise amnestisch für das Ereignis und dessen Kontext sind, kommen. Zudem treten bei der PTSD Störungen der selbstreferentiellen Perspektive und der Integration von Erinnerungen in den räumlich-zeitlichen Kontext der Autobiographie auf, sodass einzelne Erinnerungsfragmente voneinander dissoziiert werden. Laut einer Studie von Elzinga und Bremner (2002) dominieren bei trauma-assoziierten Informationen die impliziten Gedächtnisfunktionen, welches zu einer Beeinträchtigung des expliziten Gedächtnisses und anderer höherer kognitiver Funktionen führt. Darüber hinaus sind Beeinträchtigungen der exekutiven Funktionen feststellbar. In Bezug auf die Inhibition von Emotionen und von dem Ereignis unabhängige Gedanken schlägt diese oftmals fehl. Auch das Arbeitsgedächtnis sowie die Konzentration und Aufmerksamkeit ist oftmals als beeinträchtigt einzustufen. Am häufigsten sind bei Patienten mit PTSD der Hippocampus, die Amygdala und der präfrontale Kortex anatomisch oder neurofunktional geschädigt. Massive einmalige ebenso wie chronische Stresseinwirkung können nach Sapolsky (1996) morphologische oder funktionelle Schädigungen neuronaler Strukturen auslösen. Zudem zeigten Studien mithilfe bildgebender Verfahren, dass die oben genannten Hirnstrukturen besonders anfällig für Stresseinwirkungen sind (z.B. Bremner et al., 2003; Gurvits et al., 1996; Lanius et al., 2001, 2002). Bei Kriegsveteranen mit chronischer PTSD fiel ein reduziertes Hippocampusvolumen, eine Hyperaktivierung limbischer und paralimbischer Strukturen sowie frontaler Gehirnareale auf. Hinsichtlich einer akuten PTSD zeigen Studien, dass die anatomischen und funktionellen Veränderungen auch schon in der akuten Phase zu finden sind (Corbo et al., 2005; Li et al., 2006). In dem akuten Stadium lassen sich sogar instabilere und größere Veränderungen in limbischen, paralimbischen und neokortikalen Gehirnregionen als bei einer Chronifizierung feststellen. Bei einer chronischen Phase scheinen die anatomischen, chemischen und funktionellen Veränderungen stabiler und somit weniger leicht veränderbar zu sein, womit in der akuten Phase von einer erfolgreicheren therapeutischen Intervention auszugehen ist (Piefke & Markowitsch, 2008c).
Psychogene Amnesien können ebenfalls nach einem bedrohlichen Einzelerlebnis oder langanhaltender psychischer Belastungen auftreten (Piefke & Markowitsch, 2008c). Meist kann allerdings kein anatomisch-organischer Schaden festgestellt werden. In einem Fallbeispiel wird ein Mann beschrieben, der ohne Voranzeichen eine psychogene Fugue mit dem deutlichen Drang den Heimatort zu verlassen entwickelte (Markowitsch et al., 1997b). Er konnte weder seinen Namen noch seine Herkunft und sein bisheriges Leben erinnern und musste seine Vergangenheit neu erlernen. So eignete er sich ein semantisches Gedächtnis an. Allerdings blieb das episodische Gedächtnis in Bezug auf seine persönliche Lebensgeschichte blockiert. In einem weiteren Fallbeispiel wird eine Frau mit in ihrer Kindheit erlebtem Trauma durch sexuellen Missbrauch durch Verwandte geschildert (Markowitsch et al., 1997b). Als Konsequenz dieses Traumas werden fehlende Erinnerungen an die Zeit zwischen dem 10. und 16. Lebensjahr vermutet. Sie malte im Rahmen einer Psychotherapie Bilder darüber, die sie zwar emotional bewerten allerdings nicht verbalisieren konnte. Die emotionsverarbeitenden Gehirnregionen waren beim Betrachten der Bilder stark aktiviert. Ein drittes Fallbeispiel beschreibt einen Mann, der im Alter von vier Jahren einen Mann im Auto hat verbrennen sehen. Als Dreiundzwanzigjähriger brannte sein eigenes Haus, woraufhin eine persistierende Amnesie bei ihm auftrat (Markowitsch et al., 2000). Im MRT zeigte sich keine morphologische Schädigung im ZNS, jedoch wurde ein verminderter Glukosestoffwechsel beobachtet. Unmittelbar nach dem Hausbrand konnte er weder die letzten sechs Lebensjahre, noch neue Informationen speichern. Nach 12 Monaten waren viele Erinnerungen wiedergekommen und der Glukosemetabolismus weitestgehend wiederhergestellt. Das Muster der Entwicklung psychogener Amnesien ist meist ähnlich. Emotionaler Stress wird in der Kindheit erlebt, im Erwachsenenalter folgen psychische oder soziale Probleme und ein unmittelbarer Auslöser der Amnesie (Markowitsch, 2003). Diese können sich entweder als Abrufblockade oder als Blockade der Neugedächtnisbildung zeigen.
Es ist vielfach belegt worden, dass emotional belastende Erlebnisse und dauerhafter emotionaler Stress die Funktionen des ZNS pathologisch verändern und sich somit Amnesien, psychische Störungen sowie andere emotionale und kognitive Beeinträchtigungen entwickeln können. Weiterhin ist eine Abweichung in der Ausschüttung des Stresshormons Cortisol von zentraler Bedeutung (Sapolsky, 1996). Stresshormone wirken auf die neuronale Plastizität des Gehirns und können regionale Dysfunktionen sowie Blockaden der Interaktion verschiedener Gehirnregionen verursachen (z.B. Lanius et al., 2001; Piefke & Markowitsch, 2008c, b). Darüber hinaus zeigen Studien, dass die neuronalen Mechanismen ebenso als Grundlage für die Remission der Symptome sowie die Veränderung des Verhaltens durch psychotherapeutische Behandlungen dienen (Piefke & Markowitsch, 2008c). Neuroanatomische, -funktionelle und -chemische Prozesse sind durch die genetischen Dispositionen determiniert und hängen zudem von den Einflüssen und Erfahrungen im sozialen Umfeld ab. Somit wird durch die Plastizität des ZNS die Konnektivität zwischen Gehirnstrukturen als Basis des Lernens und der emotionalen Entwicklung, die Entwicklung klinischer Symptome in Abhängigkeit der Umwelt und die Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlung ermöglicht (Piefke & Markowitsch, 2008c; Reddemann et al., 2002). So ist das Wissen über trauma-induzierte neurobiologischen Abweichungen oder Schädigungen für die therapeutische Behandlung von traumatisierten Patienten besonders bedeutsam. Der Umgang mit der Dominanz des impliziten Gedächtnisses im Gegensatz zum expliziten Gedächtnis ist ein wichtiger Aspekt, der für den Therapieerfolg zu beachten ist.