Kognitive Defizite während akuter Krankheitsphasen

Eine Vielzahl von Studien berichtet von kognitiven Defiziten in allen Phasen der bipolaren Erkrankung, wobei die kognitive Leistungsfähigkeit in akuten Krankheitsphasen deutlich schlechter ist als in euthymen Stimmungslagen (Kurtz & Gerraty, 2009). Die Patienten selbst beklagen während akuter depressiver Episoden massive Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, die auch als depressive Pseudodemenz bezeichnet werden (Burdick, Endick, & Goldberg, 2005). Diese subjektiven Beeinträchtigungen können nicht allein durch eine veränderte Wahrnehmung durch die depressive Stimmungslage erklärt werden, sondern lassen sich im Rahmen von neuropsychologischen Testung objektivieren (Martinez-Aran et al., 2005). Im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen und den euthymen BP lässt sich eine signifikant reduzierte psychomotorische Geschwindigkeit, Defizite in Aufmerksamkeit, Gedächtnis und den exekutiven Funktionen feststellen (Gallagher, Gray, Watson, Young, & Ferrier, 2014; Ha et al., 2014; Rubinsztein, Michael, Underwood, Tempest, & Sahakian, 2006). Diese kognitiven Störungen bei akut depressiven BP scheinen ähnlich ausgeprägt zu sein, wie bei unipolar depressiven Patienten (UP) (Godard, Grondin, Baruch, & Lafleur, 2011; Wolfe, Granholm, Butters, Saunders, & Janowsky, 1987). Während manischer Episoden zeigt sich klinisch ein Komplex aus Denkbeschleunigung, Ideenflucht, Hyperaktivität, Rededrang und Impulsivität. Ergänzend dazu demonstrieren klinische Studien, dass akut manische Patienten signifikant erhöhte Fehlreaktionen und Auslassungen in Reaktionszeitsaufgaben zeigen (Ryan et al., 2012; Sax et al., 1999; Swann, Pazzaglia, Nicholls, Dougherty, & Moeller, 2003). Allerdings finden sich bei manischen Patienten auch auffällige Ergebnisse in Tests zu verbalem und episodischem Gedächtnis, dem Arbeitsgedächtnis und dem problemlösenden Denken (Clark, Iversen, & Goodwin, 2001; Fleck et al., 2003; Sweeney, Kmiec, & Kupfer, 2000). In einer Studie von McGrath et al. (1997) wurde gezeigt, dass akut manische BP eine ähnlich schlechte Testleistung erbringen wie schizophrene Patienten, die sich in einer akuten psychotischen Phase befinden. Im Vergleich zu gesunden Kontrollen hatten beide Gruppen eine reduzierte Testleistung in frontal-exekutiven Tests, die auch noch in der subakuten Phase nach vier Wochen nachgewiesen werden konnten.

Neuropsychologische Testergebnisse in Querschnittsstudien 

Interessanterweise zeigen Querschnittstudien, dass akut erkrankte BP schlechtere neuropsychologische Leistungen erbringen als gesunde Kontrollpersonen, es scheint allerdings kaum Unterschiede im Leistungsprofil zwischen depressiven und manischen Patienten zu geben (Basso, Lowery, Neel, Purdie, & Bornstein, 2002; Martinez-Aran et al., 2004; Ryan et al., 2012). Dies widerspricht jedoch dem klinischen Erscheinungsbild der kognitiven Symptome während Manie und Depression und weist somit die Grenzen der neuropsychologischen Diagnostik auf. Zudem liegen keine Studien vor, die direkt die Testleistung von akut depressiven und manischen Patienten vergleichen. Auch bezüglich der kognitiven Leistungen in Mischzuständen finden sich keine aussagekräftigen Studienergebnisse, da die meisten Studien Patienten in Manie und Mischzuständen in einem Sample zusammenfassten (Malhi et al., 2007). Dagegen ist nachvollziehbar belegt, dass sich die neuropsychologischen Leistungen der akut kranken Patienten im Laufe der Remission verbessern, jedoch weiterhin unterhalb der gesunden Normstichprobe liegen (Kurtz & Gerraty, 2009).

Aufgrund dieser Tatsache stellt sich die Frage, ob diese kognitiven Störungen eine stabile Eigenschaft darstellen, beispielsweise ein genetisches Risiko für die Erkrankung, oder ob sie durch andere Symptome oder die medikamentöse Behandlung bedingt sind (s. Punkt 2.2.5. zum Thema Endophänotyp). Um der Frage nach Trait- und State-Effekten nachzugehen sind Längsschnittstudien notwendig, bei denen die BP über die verschiedenen Phasen der Erkrankung hinweg untersucht werden. Derzeit liegen nur drei Studien vor, die bei BP den Langzeitverlauf der kognitiven Leistung untersucht haben. In der Studie von Chaves et al. (2011) wurden klinisch stabile BP, die allerdings von den Autoren als leicht „symptomatisch“ beschrieben wurden, in einem Prä-Post-Design innerhalb von drei Monaten getestet. Bei Baseline und Follow-Up wurde die Veränderung der Stimmung der Patienten in Relation zur kognitiven Testleistung gesetzt. Es zeigte sich, dass BP zu beiden Testzeitpunkten Beeinträchtigungen in der psychomotorischen Geschwindigkeit und der Aufmerksamkeit aufwiesen. Die Wortflüssigkeit und das verbale Langzeitgedächtnis waren von Veränderungen der affektiven Symptomatik beeinflusst, die sonstigen neuropsychologischen Maße zeigten unabhängig von einer Verbesserung der Stimmung persistierende Defizite.

Studienergebnisse 

Eine interessante Studie von Malhi et al. (2007) verfolgte einen anderen Ansatz. Die Autoren begleiteten BP über einen Zeitraum von 30 Monaten und führten kognitive Testungen in allen Phasen der Erkrankung durch. Nach Abschluss der Studie lagen leider nur von vier Patienten Daten aus allen drei Phasen vor (Depression, Manie, Remission); von acht Patienten konnten aus zwei verschiedenen Erkrankungsphasen (Depression oder Manie und Euthymie) Daten erhoben werden. Die Autoren fanden bei akut depressiven und manischen Patienten moderate Beeinträchtigungen in Aufmerksamkeit, Gedächtnis und den exekutiven Funktionen, wobei dieselben remittierten Patienten größtenteils normgerechte Testleistungen erbrachten. Lediglich subtile Defizite in Aufmerksamkeit und Gedächtnis waren im remittierten Zustand feststellbar. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine aktuelle Längsschnittstudie, in der 293 unipolar depressive und 223 bipolar depressive Patienten in einer Baselinetestung und nach 6-wöchiger Therapie untersucht wurden (Xu et al., 2012). Hier zeigte sich, dass beide Patientengruppen im Vergleich zur gesunden Kontrollgruppe ähnliche kognitive Einbußen aufwiesen. In der Remissionsphase verbesserte sich die Leistung der Patienten, wobei weiterhin Defizite in der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit und der visuellen Gedächtnisleistung feststellbar waren. Bei den UP waren im Gegensatz zu den BP zusätzlich die exekutiven Funktionen beeinträchtigt. Leider lässt diese Studie keine eindeutigen Schlüsse bezüglich Trait- oder State-Effekt der Kognition zu, da sich die Patienten in der Follow-up Messung (nach 6 Wochen Behandlung) in einem relative instabilen Zustand befanden und man nicht von einer stabilen euthymen Stimmungslage ausgehen kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Eine Interpretation der wenigen Längsschnittstudien zur Kognition bei BP ist aufgrund der methodischen Probleme (kleine Stichproben, zu kurze Intervalle zwischen Wiederholungsmessungen und unklare Symptomatik der Patienten) nur eingeschränkt möglich. Diese vage Befundlage soll durch den ersten Teil der vorliegenden Studie erweitert werden, indem BP sowohl in einem akuten Krankheitsstadium als auch in der Remission neuropsychologisch untersucht wurden.

Kognitive Defizite bei remittierten bipolaren Patienten

Bis vor einigen Jahren wurde ähnlich zu den Befunden von Kraepelin (1899) angenommen, dass BP nach einer akuten Krankheitsepisode wieder vollständig remittieren und mit der Stabilisierung der Stimmungslage auch wieder ihre vorherige kognitive Leistungsfähigkeit erreichen. Allerdings zeigen zahlreiche Studien des letzten Jahrzehnts, dass die kognitiven Beeinträchtigungen (psychomotorische Verlangsamung, Aufmerksamkeits-/Gedächtnisdefizite, Störungen der exekutiven Funktionen) während euthymer Phasen persistieren (Mann-Wrobel et al., 2011; Vohringer et al., 2013). Die kognitive Testleistung von BP liegt bis zu einer Standardabweichung unter der Testleistung gesunder Kontrollen (Torres et al., 2007). Eine Ausnahme stellen sogenannte „kristalline“ verbale Fähigkeiten und der prämorbide IQ dar (Arts et al., 2008; Hellvin et al., 2012). Die Studienergebnisse legen nahe, dass die bipolare Störung womöglich ähnlich wie die Schizophrenie einen progredienten Verlauf hat und/oder die Patienten überdauernd residuale Symptome aufweisen. Die meisten Studien zu Kognition bei BP schlussfolgerten aus ihren Ergebnissen, dass alle BP kognitive Defizite aufweisen. Diese irrtümliche Annahme kam zustande, da über das bipolare Sample Mittelwerte berechnet wurden, sodass interindividuelle Unterschiede verdeckt wurden.