OLG Frankfurt a. M. (7. Zivilsenat), Urteil vom 23.02.2022 – 7 U 199/12

Berufsunfähigkeit aufgrund chronischer Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren  VVG § 172 Abs. 1; VVG § 172 Abs. 2

 

Amtlicher Leitsatz:

In der Berufsunfähigkeitsversicherung kann die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit auch auf der Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10:F45.41) beruhen. Anders als bei der Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung (ICD-10:F43.4) ist dafür der Nachweis eines psychischen Konflikts oder einer psychosozialen Belastungssituation nicht erforderlich.

In der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M. vom 23. Februar 2022 (Az. 7 U 199/12) ging es um die Frage, ob der Kläger aus seiner seit 1. Juni 2001 bestehenden Berufsunfähigkeitsversicherung eine Rente beanspruchen kann, nachdem er seinen Beruf als Teamleiter im Ramp Service infolge anhaltender gesundheitlicher Beschwerden nicht mehr ausüben konnte. Das Landgericht Wiesbaden hatte die Klage abgewiesen; das OLG änderte dieses Urteil nun ab und verurteilte die Beklagte zur Zahlung einer monatlichen Berufsunfähigkeitsrente von 1.431,62 € ab 1. März 2010 bis längstens 1. Juni 2026.

Nach den maßgeblichen Versicherungsbedingungen (AVB-BU mit Verzicht auf abstrakte Verweisbarkeit) wird Berufsunfähigkeit angenommen, wenn der Versicherte voraussichtlich länger als sechs Monate zu mindestens 50 % infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls außerstande ist, seinen zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben (§ 2 Abs. 1 AVB-BU). Der Kläger, der seit 2005 unter chronischen Gelenkschmerzen litt, beantragte 2006 erstmals Leistungen, die die Beklagte aber mit Hinweis auf fehlende medizinische Nachweise ablehnte.

Im Berufungsprozess holte das OLG zwei fachärztliche Gutachten ein: Der internistisch-rheumatologische Gutachter stellte unmissverständlich fest, dass keinerlei entzündlich-rheumatische Erkrankung oder Fibromyalgie vorliegt, sondern lediglich alters- und belastungsbedingte Arthroseschäden, die Schmerzen auslösen können, aber in keinem Fall eine 50 %ige Leistungsunfähigkeit erklären. Dagegen diagnosticierte der psychosomatisch-psychotherapeutische Gutachter bei dem Kläger eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41). Anders als bei der somatoformen Schmerzstörung (F45.4), die einen psychischen Konflikt oder eine psychosoziale Belastungssituation voraussetzt, bedarf es für die Diagnose einer F45.41 keines solchen Nachweises; vielmehr genügt, dass psychische Faktoren – etwa Ängstlichkeit, depressive Verstimmung oder Schonhaltungen – die subjektive Schmerzwahrnehmung über Gebühr verstärken, ohne dass Vorspiegelung oder bewusste Aggravation vorliegen.

Der psychotherapeutische Gutachter konnte – gestützt auf umfassende Anamneseerhebung, klinische Beobachtung und standardisierte Testverfahren – die Beeinträchtigung der Konzentrations- und Belastungsfähigkeit, die Reduktion sozialer Kontakte sowie die Fixierung auf das Schmerzerleben als typische psychosomatische Komponente belegen. In der Gesamtschau ergab sich für das OLG deshalb eine dauerhafte, mehr als 50 %ige Berufsunfähigkeit ab Februar 2010, weil der Kläger in seiner ursprünglich körperlich wie organisatorisch anspruchsvollen Tätigkeit nicht mehr leistungsfähig war.

Demnach verurteilte das OLG die Beklagte zur Leistung der vereinbarten Rente und wies die Berufung in allen übrigen Punkten ab. Dieser Entscheidung liegt die Rechtsauffassung zugrunde, dass chronische Schmerzerkrankungen mit gemischten somatischen und psychischen Faktoren als bedingungsgemäße Ursache einer Berufsunfähigkeit anerkannt werden können, ganz ohne den strengen Nachweis belastender Konfliktlagen, wie er bei somatoformen Störungen verlangt wird (§ 172 Abs. 1, Abs. 2 VVG).