
Autismus-Spektrum-Störung (ASS) – Klassifikation, Ätiologie und klinische Merkmale
Autismus ist keine einheitliche Störung, sondern bezeichnet eine Gruppe tiefgreifender neurologisch-entwicklungsbedingter Störungen, die heute unter dem Begriff Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zusammengefasst werden.
In der ICD-11 wird ASS unter dem Kode 6A02 geführt („Autism spectrum disorder“), im DSM-5-TR (APA, 2022) als Autism Spectrum Disorder (ASD). Der Begriff „Spektrum“ verweist auf die Heterogenität in Ausprägung, kognitiver Leistungsfähigkeit und Funktionsniveau.
Prävalenz und epidemiologische Relevanz
Zwischen 0,5 % und 1 % der Bevölkerung erhalten im Laufe ihres Lebens eine ASS-Diagnose. Es handelt sich somit um eine vergleichsweise häufige neurologisch-psychiatrische Entwicklungsstörung, die insbesondere im Kindes- und Jugendalter erkannt wird, aber oft bis ins Erwachsenenalter persistiert.
Ursachen und neurobiologische Grundlagen
Genetische Faktoren gelten als Hauptursache für die Entstehung autistischer Phänotypen. Studien zeigen, dass bei etwa 80 % der Betroffenen multigenetische Risikokonstellationen vorliegen, während bei einer Minderheit monogene Mutationen (z. B. im SHANK3-, FMR1-, MECP2-Gen) für die Störung verantwortlich sind. Diese seltenen monogenetischen Subtypen bieten derzeit den vielversprechendsten Zugang zur Erforschung molekularer Krankheitsmechanismen.
Exogene Faktoren wie intrauterine Belastungen, Geburtskomplikationen oder Umwelttoxine werden als modulierende Einflussgrößen diskutiert, gelten jedoch nicht als primäre Ursachen.
Diagnostische Hauptmerkmale (gemäß ICD-11 / DSM-5-TR)
Eine ASS-Diagnose setzt laut beiden Klassifikationssystemen das Vorliegen zweier Hauptkriterienbereiche voraus:
Persistierende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion, z. B.:
- eingeschränktes Verständnis nonverbaler Signale (Blickkontakt, Mimik),
- Schwierigkeiten im Aufbau und Erhalt wechselseitiger Beziehungen,
Beeinträchtigung der Theory-of-Mind-Funktion (Perspektivübernahme).
Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, u. a.:
- stereotype Bewegungen oder Sprache,
- starkes Festhalten an Routinen oder ritualisierten Verhaltensmustern,
Hyper- oder Hyporeaktivität gegenüber sensorischen Reizen.
Die Symptomatik muss bereits in der frühen Entwicklung erkennbar sein und zu einer klinisch relevanten Einschränkung in sozialen, schulischen oder beruflichen Bereichen führen.

Asperger-Syndrom – Klassifikation, Merkmale und diagnostische Einordnung
Das Asperger-Syndrom ist eine neurobiologisch bedingte Entwicklungsstörung, die traditionell als eigenständige Diagnose innerhalb der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) verstanden wurde. Heute wird sie im internationalen Klassifikationssystem nicht mehr als eigenständige Störung geführt, sondern als Teil des Autismus-Spektrums verstanden – mit besonderem kognitiv-funktionalem Profil und ohne sprachliche oder intellektuelle Beeinträchtigung.
Klassifikation in ICD-11 und DSM-5-TR
Mit der Einführung der ICD-11 (Kapitel 06 – „Neurodevelopmental Disorders“) und des DSM-5-TR wurde das Asperger-Syndrom formal in die übergeordnete Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung (ASS/ASD)“ integriert. Die früher in der ICD-10 eigenständig geführte F84.5: Asperger-Syndrom entfällt in der ICD-11 zugunsten einer dimensionellen Diagnostik, die Schweregrad, funktionelle Beeinträchtigungen und sprachlich-kognitive Fähigkeiten erfasst.
Klinische Hauptmerkmale
Menschen mit Asperger-Syndrom zeigen typischerweise:
- Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion, z. B. bei nonverbaler Kommunikation (Blickkontakt, Körpersprache), sozialem Timing, Empathievermögen (Theory of Mind),
- Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation, etwa durch monotone Sprache, mangelnde Gesprächsregeln oder „assoziative Sprunghaftigkeit“,
- Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster, z. B. Fixierung auf Spezialthemen, rigide Routinen,
- Intakte oder überdurchschnittliche sprachliche Entwicklung, ohne Verzögerung im Sprachbeginn oder im Sprachverständnis,
Keine globale kognitive Entwicklungsverzögerung, jedoch häufig spezifische neurokognitive Defizite – v. a. in den exekutiven Funktionen (Planung, Flexibilität, Impulskontrolle) und in der zentralen Kohärenz (Integration von Kontextinformationen).
Psychologische Fachgutachten bei Autismusspektrumstörungen
Das klinische Erscheinungsbild und die Leitsymptome von Autismus-Spektrum-Störungen beinhalten altersunabhängige Einschränkungen in der sozialen Interaktion und Kommunikation sowie eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten. Störungen der Interaktion beziehen sich dabei v.a. auf die Initiierung, Aufrechterhaltung und Gestaltung von zwischenmenschlicher Beziehungen im Rahmen von Familie, Freundschaft, Partnerschaft sowie Gleichaltrigen in Kindergarten, Schule und Beruf. Störungen der Kommunikation beziehen sich dabei einerseits auf die Sprachenentwicklung, andererseits insbesondere auf die nonverbale Kommunikation einschließlich Gestik, Mimik oder Blickverhalten.
Hinzu kommen bei kognitiv gut begabten Betroffenen auch paraverbale Leistungen wie das Verstehen von übertragener Bedeutung in Sprichwörtern und Humor oder Ironie.
Eingeschränkte, repetitive Verhaltensweisen, Interessen oder Aktivitäten umfassen dabei v.a. Spezialinteressen, ritualisierte Tagesabläufe und eine starke Abneigung gegenüber Veränderungen der eigenen Lebensumstände. Diese Phänomene zeigen sich bei Personen mit Autimusspektrumstörungen zumeist von frühester Kindheit an und bleiben dann über die gesamte Lebensgeschichte weiter vorliegend.
Das klinische Erscheinungsbild verändert sich erheblich über die Lebensspanne vom Kleinkind- über das Schulalter und die Pubertät bis hin zum (selbständigen) Leben als Erwachsener. Alle Lebensphasen halten unterschiedliche Anforderungen an die soziale Interaktions- und Kommunikationsfähigkeiten bereit. Aus der wechselnden Art und Weise bzw. der Ausprägung der genannten Kernsymptome über die Lebensspanne ergibt sich insbesondere für die Diagnostik und gutachterliche Beurteilung die wesentlich Frage, welche Symptomkonstellationen in welchem Alter wegweisend sind.
In unserem Hause werden psychologische Fachgutachten zur Diagnostik und gutachterlichen Beurteilung von Autismusspektrumstörungen in Relation zu unterschiedlichen rechtlichen Fragestellungen erstellt.