Zwangsstörung: Wenn das Gehirn nicht loslassen kann
Zwangsstörungen sind gekennzeichnet durch wiederkehrende, aufdringliche Gedanken (sogenannte Obsessionen), die häufig mit einem Gefühl intensiver Anspannung einhergehen. Um diese innere Unruhe zu reduzieren oder befürchtete negative Ereignisse abzuwenden, führen Betroffene ritualisierte Handlungen aus – Kompulsionen, die kurzfristig entlasten, langfristig aber zur Chronifizierung der Symptomatik beitragen.
Was im Alltag vielleicht noch harmlos erscheint – wie das wiederholte Kontrollieren von Reisepapieren – wird bei Menschen mit Zwangsstörung zu einem dominanten Lebensinhalt. Statt ein- oder zweimal zu überprüfen, kontrollieren sie stundenlang oder vermeiden bestimmte Tätigkeiten ganz, etwa aus Angst, Verantwortung zu übernehmen – wie das Abschließen von Büroschlüsseln nach Feierabend.
Die Zwangssymptomatik führt oft zu erheblichen Einschränkungen im beruflichen und privaten Leben.
Einblick in ein typisches Fallbeispiel
Eine 32-jährige Frau, Hausfrau, erlebt vor dem Verlassen ihrer Wohnung einen starken inneren Zwang, sämtliche elektrischen Geräte, Fenster, Türen und Wasserhähne einer gründlichen Kontrolle zu unterziehen. Dieses Kontrollverhalten folgt einem streng festgelegten Ablauf, der in identischer Reihenfolge durchgeführt werden muss.
Zunächst werden die vier Herdplatten einzeln visuell fixiert, begleitet von der halblauten, betont langsamen und konzentrierten Aussage: „aus – aus – aus!“. Danach folgen in derselben Reihenfolge die Kaffeemaschine, der Wasserkocher, das Bügeleisen sowie Radio und Fernseher. Im Anschluss werden sämtliche Wasserhähne überprüft – dabei wird darauf geachtet, dass der Wasserhahn über einem Abfluss steht und der Stöpsel nicht im Becken liegt.
Anschließend kontrolliert sie die Heizkörperventile, dann die Fenster, wobei jedes Fenster dreimal angedrückt wird. Sollte Unsicherheit bestehen, wird dieser Schritt drei weitere Male wiederholt, unter Verwendung der Selbstinstruktion: „3-mal, dann ist gut!“
Danach folgt die Überprüfung des Kühlschranks und abschließend der Wohnungstür. Diese wird ebenfalls dreimal mit der Hand angedrückt, gefolgt von dem Anlehnen des gesamten Körpergewichts an die Tür, um sich der ordnungsgemäßen Schließung zu vergewissern.
Kommt es zu Zeitdruck oder innerer Anspannung, wird der gesamte Ablauf mehrfach wiederholt. Jede einzelne Handlung wird nur dann als abgeschlossen betrachtet, wenn sie mit maximaler Konzentration ausgeführt wurde. Ist dies nicht der Fall – etwa durch Ablenkung oder Unsicherheit – wird der gesamte Ablauf erneut durchlaufen.
Klassifikation und psychologische Einordnung
Sowohl im ICD-11 als auch im DSM-5 ist die Zwangsstörung als eigenständiges Störungsbild klassifiziert. Aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Sicht dienen Zwangshandlungen in erster Linie der Neutralisierung von Bedrohung – auch dann, wenn objektiv keine Gefahr besteht. Die Betroffenen erleben harmlose Auslöser als bedeutungsvoll und mit möglichen katastrophalen Folgen verbunden. Dabei steht häufig das Gefühl im Vordergrund, für mögliche Schäden unmittelbar verantwortlich zu sein.
Die zwanghafte Unsicherheit kann durch Flucht oder Vermeidung nicht aufgelöst werden – daher entwickeln sich Rituale als alternative Bewältigungsstrategie. Diese führen zwar kurzfristig zur Entlastung, verstärken aber langfristig die Problematik, da sie die zugrundeliegenden Ängste nicht korrigieren.
Neurowissenschaftliche Perspektive: Ein Gehirn, das nicht abschalten kann
Zwangsstörungen gelten heute als Erkrankung, bei der bestimmte neuronale Netzwerke fehlgesteuert oder überaktiviert sind. Im Fokus steht der sogenannte kortiko-striato-thalamo-kortikale Regelkreis, ein Netzwerk, das für Impulskontrolle, Fehlerüberwachung und Gewohnheitsbildung verantwortlich ist.
Untersuchungen mittels funktioneller Bildgebung zeigen bei Betroffenen eine Überaktivierung u. a. im orbitofrontalen Kortex, im anterioren cingulären Cortex und im Caudatum – einer Region, die normalerweise dabei hilft, unwichtige Impulse zu unterdrücken. Genau diese Filterfunktion scheint beeinträchtigt zu sein.
Dadurch erhalten Gedanken, die eigentlich als irrelevant erkannt werden sollten, eine übersteigerte Bedeutung.
Auch auf neurochemischer Ebene sind Auffälligkeiten dokumentiert. Vor allem eine gestörte Serotoninregulation wird mit der Entstehung von Zwangsstörungen in Verbindung gebracht – weshalb selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) häufig zum Einsatz kommen. Neuere Ansätze befassen sich zudem mit der Rolle von Dopamin und Glutamat, insbesondere bei chronisch verlaufenden Störungen.
Psychologische Fachgutachten bei Zwangsstörungen
Bei einer Zwangserkrankung erleben Betroffene einen Drang, bestimmte Dinge zu tun oder zu denken, dem sie willentlich nur schwer oder gar nicht widerstehen können. Im Zusammenhang mit der Zwangsproblematik werden dabei häufig auch soziale Defizite und berufliche Einschränkungen ersichtlich.
Bei der gutachterlichen Beurteilung der psychischen Ausgangslage bezogen auf eine Zwangsstörung wird daher u.a. auch das Ausmaß der Erkrankungssymptomatik in Relation zu der jeweiligen Rechtsfrage beurteilt.
In Zusammenhang mit der beruflichen Leistungsfähigkeit bedeutet dies z.B., dass v.a. die Auswirkungen der Zwangsstörungen auf die berufliche Fähigkeiten beurteilt wird.