Neuropsychologie 

Die Neuropsychologie ist ein interdisziplinäres Fachgebiet an der Schnittstelle von Psychologie, Neurowissenschaften und Medizin. Sie erforscht, wie Strukturen und Funktionen des Gehirns unser Erleben, Denken und Verhalten beeinflussen – und was passiert, wenn diese Prozesse gestört sind. Dabei geht es um zentrale Fragen des Menschseins: Wie erinnern wir? Wie treffen wir Entscheidungen? Was passiert im Gehirn bei Emotionen, Sprache oder Aufmerksamkeit? Und wie wirken sich Schädigungen, Erkrankungen oder Entwicklungsstörungen auf diese Fähigkeiten aus?

Im Zentrum der neuropsychologischen Arbeit stehen sowohl grundlagenwissenschaftliche Fragestellungen als auch die Anwendung in der klinischen Praxis – etwa in der Diagnostik und Therapie von Schlaganfällen, Demenzen, Epilepsien oder traumatischen Hirnverletzungen. Die Methoden reichen von standardisierten Testverfahren über bildgebende Verfahren bis hin zu computergestützten Simulationen kognitiver Prozesse.

Um die Komplexität und Vielfalt der Neuropsychologie zu verdeutlichen, finden sich auf dieser Seite auch konkrete Fallbeispiele, die das Fachgebiet entscheidend geprägt haben.

So etwa der Fall des berühmten Patienten H.M., der nach einer Operation zur Behandlung seiner Epilepsie unfähig wurde, neue Erinnerungen zu bilden – ein Schicksal, das der Neuropsychologin Brenda Milner bahnbrechende Einsichten in die Funktionsweise des Gedächtnisses ermöglichte.

Oder der Fall aus dem Buch “Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte” des Neurologen Oliver Sacks: Ein Patient, der trotz intakter Intelligenz und Sprache nicht mehr erkannte, was er sah, und seine Umwelt nur noch als abstrakte Einzelmerkmale wahrnahm – ein eindrucksvolles Beispiel für die Bedeutung intakter visueller und semantischer Verarbeitung im Gehirn.

Neben diesen historischen und literarisch bekannten Fällen stellt diese Seite auch aktuelle Erkenntnisse und Forschungsansätze der modernen Neuropsychologie vor: etwa zu neuronaler Plastizität, digitalen Diagnoseverfahren oder neuen Therapieformen für neurokognitive Störungen.

Der Patient H.M.


Es ist das Jahr 1953. In einem Operationssaal in Hartford, Connecticut, liegt ein 27-jähriger Mann namens Henry Molaison auf dem Tisch – nichts ahnend, dass sein Gehirn bald zu einem der meistuntersuchten der Medizingeschichte gehören wird. Seit seiner Kindheit leidet H.M., wie er später nur genannt werden sollte, unter schweren epileptischen Anfällen, die weder Medikamente noch andere Therapien kontrollieren können. In einem letzten, verzweifelten Versuch, sein Leiden zu lindern, wagt der Neurochirurg William Scoville das Unerhörte: Er entfernt beidseitig große Teile des medialen Temporallappens, darunter den Hippocampus, die Amygdala und angrenzende kortikale Strukturen. Was folgt, ist eine wissenschaftliche Zeitenwende.

Die Anfälle verschwinden – und mit ihnen ein Teil von H.M. selbst. Von einem Moment auf den nächsten verliert er die Fähigkeit, neue bewusste Erinnerungen zu bilden. Gespräche verschwinden nach Sekunden aus seinem Bewusstsein. Begegnungen sind für ihn immer die ersten. Während seine Intelligenz, Sprachfähigkeit und Wahrnehmung intakt bleiben, entsteht eine tiefe anterograde Amnesie, die ihn zeitlebens begleiten wird. Die Operation hatte ihn von seiner Epilepsie geheilt – und ihn zugleich in einer Gegenwart ohne Zukunft gefangen.


Doch gerade diese Tragik macht H.M. zum bedeutendsten Fall der frühen Neuropsychologie. Die kanadische Neuropsychologin Brenda Milner, die ihn jahrelang erforscht, erkennt: Das Gedächtnis ist kein monolithischer Speicher, sondern ein komplexes System verschiedener Module. H.M. kann motorische Fertigkeiten erlernen – etwa das Zeichnen von Formen im Spiegel – ohne sich je daran zu erinnern, geübt zu haben. Diese Entdeckung beweist erstmals, dass es verschiedene Gedächtnissysteme im Gehirn gibt: Das deklarative Gedächtnis, das bewusste Erinnern von Fakten und Ereignissen, ist vom Hippocampus abhängig. Das prozedurale Gedächtnis, das für Bewegungen und Routinen zuständig ist, dagegen nicht.


H.M. wurde zum unfreiwilligen Pionier der Gedächtnisforschung. Jahrzehntelang führten Wissenschaftler*innen Untersuchungen durch, sein Gehirn wurde nach seinem Tod in über 2.400 hauchdünne Scheiben zerschnitten und digitalisiert – ein makaberer, aber aufschlussreicher Akt der Wissenschaft. Heute wissen wir dank ihm, dass der Hippocampus eine Schlüsselrolle bei der Konsolidierung von Erinnerungen spielt, jedoch nicht für das Abrufen älterer, bereits gespeicherter Inhalte verantwortlich ist.


Was bleibt, ist ein einzigartiger Fall, der die Frage stellt: Was macht unser Selbst aus, wenn unser Gedächtnis schweigt? H.M. konnte erzählen, was in seiner Kindheit geschehen war, doch er konnte nicht erinnern, dass er es erzählt hatte Er lebte in einem fortwährenden Jetzt, intakt im Denken, aber getrennt von der Zeit.


Die Geschichte von H.M. ist nicht nur ein medizinisches Mysterium, sondern ein philosophisches Echo auf die Fragilität unserer Identität. Und sie ist ein Denkmal dafür, wie ein einziger menschlicher Verlust zum kollektiven Wissensgewinn werden kann.

Eric Kandel betont, dass das Gehirn auch im hohen Alter plastisch bleibt, sich aber auf molekularer Ebene messbare Veränderungen vollziehen. In seinen Arbeiten zur altersassoziierten Gedächtnisschwäche zeigt er u. a., dass im Gyrus dentatus des Hippocampus der Histon-Regulator RbAp48 mit den Jahren abnimmt; dieses Defizit beeinträchtigt synaptische Plastizität und damit Lernleistungen. Wird RbAp48 in alten Mäusegehirnen experimentell angehoben, normalisiert sich das Gedächtnis – ein Hinweis, dass altersbedingter Abbau reversibel sein kann und sich von Alzheimer-Pathologie unterscheidet. 

Auf Vorträgen unterstreicht Kandel außerdem, dass körperliche Aktivität und lebenslanges Lernen die plastischen Reserven im Alter fördern: Bewegung steigert u. a. den Osteocalcin-Spiegel, der als „genereller Gedächtnis-Booster“ wirkt, und geistige Herausforderung hält die synaptische Architektur flexibel. Sein Rat lautet deshalb: „Don’t retire early.“

Hemisphärische 
Asymmetrie 
als zentrales Prinzip 
des Gehirns

Als Faustregel gilt, dass wir typischerweise eine dominante Hemisphäre für bestimmte Arten kognitiver Operationen haben. Solche spezialisierten Zuständigkeiten zeigen sich besonders deutlich bei emotionaler Reaktionsfähigkeit und visuell-räumlicher Aufmerksamkeit sowie bei bewusster Problemlösung und Sprachfähigkeiten. Diese funktionalen Asymmetrien werfen die Frage nach dem besonderen Zweck und der neuroinformatischen Infrastruktur auf, die den Menschen bei der Evolution zur Wahrnehmung, zum Verständnis und zur Navigation in der Welt befähigt.

Wie trägt die Hemisphärenspezialisierung zur menschlichen Kognition bei?

Einzigartige menschliche kognitive Fähigkeiten entstehen durch das flexible Zusammenspiel spezifischer lokaler neuronaler Module mit hemisphärischen Asymmetrien in der funktionalen Spezialisierung. Hier diskutieren wir, wie diese rechnergestützten Designprinzipien ein Gerüst für einige der fortschrittlichsten kognitiven Operationen bilden, wie beispielsweise das semantische Verständnis der Weltstruktur, logisches Denken und die Kommunikation über Sprache. Wir ziehen Parallelen zu Dual-Processing-Theorien der Kognition und konzentrieren uns dabei auf Kahnemans System 1 und System 2. Wir schlagen die Integration dieser Ideen mit der Global Workspace Theory vor, um die dynamische Weiterleitung von Informationsprodukten zwischen beiden Systemen zu erklären. Die Vertiefung des aktuellen Verständnisses der Besonderheit neurokognitiver Asymmetrie kann die nächste Welle neurowissenschaftlich inspirierter künstlicher Intelligenz auslösen.

Funktionale Lateralisierung hängt von spezifischen Kontextanforderungen ab

Es ist eine der etabliertesten Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Forschung, dass die linke Hemisphäre den übergeordneten Sprachprozessor beherbergt ( Broca, 1865 ; Wernicke, 1874 ). Diese Annahme impliziert jedoch nicht, dass die rechte Hemisphäre grundsätzlich wortblind ist ( Lindell, 2006 ). Tatsächlich beruhen metalinguistische Verarbeitungsaspekte wie die Verarbeitung von Metaphern oder die Verarbeitung untergeordneter Bedeutungen mehrdeutiger Wörter auf einer stärkeren Beteiligung rechtshemisphärischer Regionen (siehe Hartwigsen und Siebner, 2012 ). In manchen Fällen hängt die Lateralisierung von der spezifischen Funktion eines bestimmten linguistischen Prozesses ab.

Soziale Kognition und Sprache 

Die kognitive Evolution des Menschen wurde durch soziale und sprachliche Fähigkeiten vorangetrieben. Ein herausragendes Merkmal sozialer Kognition ist die Fähigkeit, die Gedanken, Überzeugungen und Verhaltensweisen anderer Menschen zu erschließen. Schon Kleinkinder im Alter von sieben Monaten scheinen zu impliziten mentalen Schlussfolgerungen fähig zu sein. Soziale Kognition ist eng mit Sprachverständnis und -produktion verknüpft. Beide Prozesse scheinen für den zwischenmenschlichen Austausch entscheidend zu sein. Das Verständnis der semantischen Implikationen eines gegebenen Kontextes ist insbesondere für soziale Interaktionen relevant.

Wie wird 
Sprache verarbeitet?

Ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Sprache liegt im Gehirn. Schon vor mehr als 150 Jahren wurden Gehirnareale entdeckt, die wesentlich für das Sprechen und das Verstehen von Sprache sind. Doch viele scheinbar einfache Fragen sind weiterhin ungelöst. So untersucht David Poeppel, ehemaliger Direktor des Ernst Strüngmann Instituts, wie Gesprochenes, das als Schall am Ohr ankommt, im Gehirn richtig verarbeitet werden kann. Und umgekehrt, wie die Antwort im Gehirn generiert und als gesprochenes Wort geäußert wird. Semantische Kognition bezeichnet dabei die Fähigkeit, Wörtern, Lauten, Objekten und Gesichtern Bedeutungen zuzuordnen und sie für die Interaktion mit der Umwelt zu nutzen. Diese Fähigkeit basiert sowohl auf gespeichertem semantischem Wissen (semantische Repräsentationen) als auch auf exekutiven Kontrollmechanismen, die die semantische Aktivierung an aktuelle Ziele und Einschränkungen anpassen (semantische Kontrolle).