BGH-Beschluss One v. 29.06.22, IV ZR 110/21- Erbrechtsverfahren:
BGB § 2314 Abs. 1; EUERBVO ART. 35; ADOPTG ART. 12 § 2 ABS. 2
Leitsatz: „Die Anwendung des gemäß Art. 22 Abs. 1 EuErbVO gewählten englischen Erbrechts verstößt jedenfalls dann gegen den deutschen ordre public im Sinne von Art. 35 EuErbVO, wenn sie dazu führt, dass bei einem Sachverhalt mit hinreichend starkem Inlandsbezug kein bedarfsunabhängiger Pflichtteilsanspruch eines Kindes besteht.“
In dem Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 29. Juni 2022 (IV ZR 110/21) ging es um die Anwendung des englischen Erbrechts in einem Erbrechtsverfahren, das nach der Europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO) geregelt wurde. Der Kläger, ein Adoptivsohn des Erblassers, beantragte Einsicht in den Nachlassbestand des Erblassers. Dieser hatte in einem Testament vom 13. März 2015 das englische Erbrecht gewählt, um die Rechtsnachfolge zu regeln, und setzte die Beklagte als Alleinerbin ein. Der Kläger erhob daraufhin Ansprüche auf Auskunft und Wertermittlung des Nachlasses gemäß § 2314 Abs. 1 BGB.
Das Gericht stellte fest, dass der Kläger als Adoptivsohn des Erblassers nach deutschem Recht pflichtteilsberechtigt ist. Dies begründete der BGH unter Berufung auf die Vorschriften des deutschen BGB in Verbindung mit dem Adoptivgesetz (AdoptG), das dem Kläger das Recht auf Auskunft und Wertermittlung gemäß § 2314 Abs. 1 BGB zuspricht. Der Kläger habe demnach Anspruch auf Auskunft über den Nachlassbestand, auch wenn der Erblasser im Testament vom 13. März 2015 das englische Erbrecht als maßgeblich für die Nachlassregelung gewählt habe.
Der BGH stellte jedoch fest, dass die Anwendung des englischen Erbrechts gemäß Art. 35 EuErbVO im vorliegenden Fall gegen den deutschen ordre public verstoßen würde. Dies gelte insbesondere, da das englische Erbrecht keine Regelungen für Pflichtteilsansprüche wie das deutsche Erbrecht kenne, sondern lediglich eine finanzielle Zuweisung für Angehörige vorsehe, die als „Provision for Family and Dependants“ bezeichnet wird. In Deutschland hingegen ist der Pflichtteilsanspruch ein bedarfsunabhängiges Recht, das auch in Fällen greift, in denen der Erblasser keine ausreichende Zuwendung gemacht hat.
Das Gericht entschied, dass in einem Fall mit hinreichendem Inlandsbezug das englische Erbrecht nicht anwendbar ist, weil es die grundlegenden Prinzipien des deutschen Erbrechts, insbesondere die Rechte der Pflichtteilsberechtigten, nicht wahrt. Daher wurde der Antrag des Klägers auf Auskunft und Wertermittlung des Nachlasses gemäß § 2314 Abs. 1 BGB anerkannt, da ihm als Adoptivsohn ein Anspruch auf Pflichtteilsausgleich zusteht.
Zusammenfassend ist die Entscheidung des BGH wichtig, weil sie die Anwendung des EuErbVO im Kontext des deutschen Pflichtteilsrechts präzisiert. Sie stellt klar, dass das gewählte ausländische Erbrecht in Fällen mit starkem Inlandsbezug (wie hier durch die Adoption) nicht zu einer Regelung führen darf, die den deutschen ordre public, insbesondere die Rechte der Pflichtteilsberechtigten, unterläuft. In solchen Fällen müssen die deutschen Regelungen zum Pflichtteil und die damit verbundenen Rechte gewahrt bleiben.