BGH zur Beurteilung einer Kindeswohlgefährdung in familiengerichtlichen Verfahren
Redaktioneller Leitsatz:
„Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann anzunehmen, wenn bei dem Kind bereits ein Schaden eingetreten ist oder sich eine erhebliche Gefährdung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt. Auch sind die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von den Eltern und einer Fremdunterbringung zu berücksichtigen und müssen durch die hinreichend gewisse Aussicht auf Beseitigung der festgestellten Gefahr aufgewogen werden, so dass sich das Kindeswohl in der Gesamtbetrachtung verbessert“ (BVerfG, FamRZ 2018, 1084). (Rn. 27)
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Sorgerechtsentziehung (FamRZ 2018, 1084) klargestellt, dass eine Kindeswohlgefährdung erst dann angenommen werden darf, wenn bei dem Kind bereits ein Schaden eingetreten ist oder eine erhebliche Gefahr mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehbar ist. Dabei muss das Familiengericht immer auch die negativen Folgen einer Trennung des Kindes von seinen Eltern und einer Fremdunterbringung gegenrechnen und abwägen, ob eine solche Maßnahme durch die Aussicht auf Beseitigung der Gefahr gerechtfertigt ist, sodass sich das Kindeswohl insgesamt verbessert (Rn. 27).
Vorliegend musste das Oberlandesgericht Hamm (Beschluss vom 20. Dezember 2019 – 13 UF 177/19) im Rahmen eines Sorgerechtsverfahrens prüfen, ob die depressive Erkrankung der Kindesmutter eine solche Gefährdung darstellt. Die Mutter befand sich in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Das erstinstanzlich eingeholte psychologische Sachverständigengutachten kam zu dem Ergebnis, dass Mutter und Vater krankheitsbedingt derzeit nicht in der Lage seien, die notwendigen Bedürfnisse des Kindes zu erkennen und angemessen zu befriedigen. Das Kind selbst habe infolge der elterlichen Belastung bereits psychische Beeinträchtigungen erlitten und sei behandlungsbedürftig geworden.
In der Berufungsinstanz hat das Gericht erneut ein Gutachten eingeholt und eine differenzierte Gefährdungsprüfung vorgenommen. Das Ergebnis lautete, dass die Mutter zwar inzwischen stabilisiert erscheine, aber trotzdem weiterhin eine signifikante Gefährdung für das Kind bestehe und in absehbarer Zukunft wahrscheinlich fortbestehen werde. Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde insbesondere der Verbleib des Kindes im leiblichen Umfeld gewürdigt: Bindung, Beziehung und Kontinuität zum Elternhaus wurden den traumatisierenden Effekten einer möglichen kurzzeitigen Fremdunterbringung gegenübergestellt.
Am Ende entschied das OLG Hamm – anders als das Amtsgericht zuvor –, dass kein vollständiger Entzug des Sorgerechts und keine dauerhafte Fremdunterbringung notwendig seien. Stattdessen verbliebe das Kind im Haushalt der Mutter, gleichzeitig wurden jedoch klare Interventionsmaßnahmen angeordnet, um die fortbestehende Kindeswohlgefährdung wirksam zu bekämpfen. Dazu zählten u. a. eine engmaschige sozialpädagogische Begleitung, regelmäßige Therapiesitzungen für Mutter und Kind sowie eine weise Ausweitung des Umgangs mit dem Vater, um die elterlichen Bindungen zu stärken.
In OLG Hamm (13. Senat für Familiensachen), Beschluss v. 20.12.2019 – 13UF 177/19 BGB § 1666, § 1666a