OLG Karlsruhe, Urteil vom 24.09.2009 - 4 U 124/04

 

Amtliche Leitsätze:

1. Wer sich auf fehlende Geschäftsfähigkeit beim Verkauf eines Grundstücks beruft, muss den vollen Nachweis der Aufhebung der freien Willensbestimmung für den Zeitpunkt des Kaufvertrages erbringen. Die Beweislast erstreckt sich auch auf Anknüpfungstatsachen (bestimmte Verhaltensweisen der Verkäuferin in der Vergangenheit), die evtl. von einem Sachverständigen herangezogen werden, um Feststellungen zu einer psychiatrischen Erkrankung in der Vergangenheit zu treffen. (amtlicher Leitsatz)

2. Eine langjährige chronische Schizophrenie lässt im Regelfall noch nicht ohne weiteres den Schluss zu, dass die freie Willensbestimmung zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit aufgehoben war. Vielmehr kommt es auch bei einer chronischen Schizophrenie in der Regel auf die konkrete Ausprägung der psychopathologischen Symptomatik zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses an. (amtlicher Leitsatz)

3. Das Gericht ist auch bei schwierigen psychiatrischen Fragen verpflichtet, die Schlüssigkeit eines Sachverständigengutachtens zu prüfen und kritisch zu würdigen. (amtlicher Leitsatz

 

Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat mit Urteil vom 24. September 2009 (Az. 4 U 124/04) noch einmal klargestellt, dass eine Berufung auf mangelnde Geschäftsfähigkeit angesichts einer psychischen Erkrankung sehr strengen Anforderungen unterliegt. Eine solche Behauptung setzt zwingend voraus, dass derjenige, der sich darauf beruft, den vollen Beweis dafür erbringt, dass die betroffene Person im Zeitpunkt des Vertragsschlusses „freiwillig und unbeeinflusst“ nicht mehr in der Lage war, die Weichen ihres Handelns in eigener Verantwortung zu stellen (§ 104 Nr. 2 BGB). Hierzu müssen im Zweifel auch Anknüpfungstatsachen, beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen, die auf eine psychiatrische Erkrankung hindeuten können, durch Beweismittel – notfalls durch psychiatrische Sachverständigengutachten – lückenlos dokumentiert werden.

Die Kläger hatten im hier entschiedenen Fall die Beklagte auf Herausgabe eines Hauses in Anspruch genommen, das sie notariell am 14. November 2000 verkauft hatte. Die Beklagte erklärte, sie sei damals geschäftsunfähig gewesen, weil sie an einer chronischen Schizophrenie leide. Die Käufer bestritten dies und verwiesen auf ein Gutachten, das bei der Beklagten keine Geschäftsunfähigkeit erkannt hatte. Die Beklagte ließ im Berufungsverfahren ein weiteres Sachverständigengutachten einholen, das erneut eine schizophrene Psychose konstatiert und daraus eine fehlende freie Willensbildung im Kaufzeitpunkt herleitete.

Das Oberlandesgericht konnte diesem Gutachten jedoch nicht folgen und wies die Berufung zurück. Es betonte dazu im Kern:

Art und Schwere der psychischen Krankheit allein begründen noch keine handlungsunfähige Willensbildung. Selbst eine langjährig verlaufende Schizophrenie lässt nicht ohne weiteres den Rückschluss zu, dass der Erkrankte im November 2000 nicht mehr eigenverantwortlich entscheiden konnte. Entscheidend sei vielmehr, welche Ausprägung der psychopathologischen Symptome – Wahn, Antriebsstörung, Desorientierung – tatsächlich damals bestanden habe.

Zur Prüfung waren daher konkrete Anknüpfungstatsachen heranzuziehen: Verhalten der Beklagten in den Verkaufsverhandlungen, eigenständige Initiative bei Preisverhandlungen, die Ausgestaltung der Vertragsbedingungen (etwa Vereinbarung eines mietfreien Wohnrechts, Auswahl der Käufer) sowie die objektive Lebenslage (ständig wechselnde Wohnsituation, finanzielle Zwänge wegen Heimkosten für die Tochter). Aus all dem ergab sich, dass die Beklagte sehr wohl in der Lage gewesen sein musste, zielgerichtet und eigenmotiviert über den Verkauf zu entscheiden.

Auch der beauftragte psychiatrische Gutachter Prof. Dr. Sch. hatte die Möglichkeit einer „doppelten Buchführung“ eingeräumt – eines Symptoms, bei dem schizophrene Patienten zwar innerlich von Wahnvorstellungen beherrscht sind, dennoch im Alltag weitgehend normal handeln können. Genau dieses Phänomen zeigt jedoch, dass selbst bei einer Schizophrenie die Geschäftsfähigkeit nicht automatisch ausgeschlossen ist.

Ein weiteres Privatgutachten der Käufer, das eine histrionische Persönlichkeitsstörung diagnostizierte, fand das Gericht ebenfalls überzeugend: Es stellte fest, dass die Beklagte in ihrer Lebensführung durchaus zielorientiert und vernünftig handelte.

Das Gericht hob hervor, dass Gerichte bei schwierigen psychiatrischen Fragestellungen nicht auf das bloße Vorbringen eines Experten vertrauen dürfen. Vielmehr müssen sie Gutachten kritisch prüfen, auf Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit kontrollieren und die tatsächlichen Umstände des Einzelfalles sorgfältig abwägen. An die Stelle eines isolierten psychiatrischen Gutachtens muss eine Gesamtwürdigung aller verfügbaren Beweismittel treten, bevor sich ein Richter der Auffassung anschließt, jemand sei im fraglichen Zeitpunkt geschäftsunfähig. In der praktischen Folge bedeutete dies für den hier streitigen Immobilienkauf, dass die Verträge wirksam waren und die Beklagte zu Recht auf Räumung und Herausgabe verurteilt wurde. Eine Rückabwicklung oder Rückübertragung des Eigentums kam nicht in Betracht, da die Geschäftsfähigkeit der Beklagten im Herbst 2000 nicht nachgewiesen werden konnte.