Navi im Kopf
In einer unbekannten Stadt kann das Geflecht aus Straßen und Fassaden zunächst desorientierend wirken – und doch gelingt es dem Menschen häufig schon nach kurzer Zeit, ohne externe Hilfsmittel eine innere Karte zu erstellen.
Christian Doeller beschreibt den Mechanismus dahinter: „Orts- und Gitterzellen generieren mentale Karten, auf denen das Gehirn nicht nur Räume, sondern ebenso Erinnerungen und abstraktes Wissen verankert.“ Diese Zellsysteme bilden somit ein fundamentales Organisationsprinzip kognitiver Verarbeitung, das es erlaubt, Gelerntes zu verallgemeinern und auf neue Situationen anzuwenden.
Das Orientierungsvermögen zeigt einen deutlichen Reifeverlauf: Säuglinge navigieren zunächst egozentrisch – sie beziehen sich primär auf den eigenen Körper. Mit zunehmender Entwicklung tritt das allozentrische System in den Vordergrund, das sich an externen Landmarken orientiert. Im höheren Alter verliert dieses System jedoch an Präzision, während die egozentrische Strategie vergleichsweise stabil bleibt.
Räumliche Gedächtnisdefizite gehören zudem zu den frühesten Symptomen einer Demenz. Ursache ist meist eine Schädigung im entorhinalen Kortex, einem Areal, das sowohl für Orientierung als auch für episodisches Gedächtnis essenziell ist. In einer Studie verglich Doellers Team Personen mit einer Alzheimer-Risikovariante des APOE-Gens mit genetisch unbelasteten Kontrollprobanden. Resultat: Schon Jahre vor klinischen Einbußen zeigte sich bei Risikoträgern eine verminderte Aktivität der Gitterzellen im entorhinalen Kortex – parallel dazu allerdings eine gesteigerte Aktivität des Hippocampus. Diese Hyperaktivität wird als Kompensationsversuch interpretiert, mit dem das Gehirn den Funktionsverlust im Navigationsnetzwerk auszugleichen versucht; die genauen Mechanismen sind Gegenstand laufender Forschung.
Alzheimer: Der Ortssinn schwindet
Typischerweise setzt eine Alzheimer-Erkrankung im entorhinalen Kortex ein. In diesem Areal bilden sich frühzeitig Ablagerungen fehlgefalteter Proteine, die als Amyloid-Plaques bekannt sind. Tierexperimentelle Studien mit Alzheimer-Modellen zeigen, dass darunter vor allem die Aktivität der Gitterzellen leidet: Ihre charakteristischen Feuermuster werden unscharf, die räumliche Präzision bricht ein – vertraute Umgebungen erscheinen plötzlich fremd, Distanzeinschätzungen werden unzuverlässig.
Doeller vergleicht diesen Prozess mit einer fortschreitenden Kurzsichtigkeit des Orientierungssinns: Je schlechter die neuronale „Auflösung“, desto höher das Risiko, sich zu verlaufen. Navigationshilfen auf Smartphone oder im Auto übernehmen heute große Teile der Wegfindung. Könnte sich dadurch das natürliche Navigationsvermögen weiter verschlechtern? Auf lange Sicht sei das denkbar, sagt Doeller, ganz verzichtbar werde der Orientierungssystem-Schaltkreis jedoch nicht – er bleibt essenziell für das Zurechtfinden in Wohnräumen, Gebäuden oder Arbeitsumgebungen. Selbst wenn externe Navis eines Tages alle Wegaufgaben abnähmen, könnte das freiwerdende neuronale Potenzial anderen kognitiven Funktionen wie Gedächtnis oder Abstraktion zugutekommen – vielleicht entstünden dabei sogar neue Fähigkeiten.