„Als mein Name noch seinem Zorn gehörte – Frau S. schreibt ihre Geschichte neu“

 

Eine wahre Geschichte über Kindheit, Schuldzuweisungen – und die befreiende Kraft einer Vornamensänderung

Frau S. ist heute 35 Jahre alt, Kunsthistorikerin, lebt in einer hellen Altbauwohnung, arbeitet an Katalogtexten für Museen. Wer sie beim Vernissage-Talk erlebt – aufrecht, kluge Worte, feiner Humor –, ahnt nicht, dass sie einen weiten Weg zurücklegen musste, um überhaupt einem Publikum gegenüberstehen zu können.


Schon in der Grundschule beginnt ihr Tag um fünf Uhr. Die Mutter bleibt im Bett, der Vater ist bereits in der Firma. Also schlüpft das elfjährige Mädchen aus der Wolldecke, weckt drei kleinere Geschwister, wäscht Gesichter, knöpft Hemd­kragen zu, streicht Brote, prüft Mäppchen, schiebt Minirucksäcke über dünne Schultern. Erst wenn die kleinen Schuhe auf dem Gehweg klappern, gönnt sie sich einen Schluck kalten Kakao und rennt selbst zur ersten Stunde.

Am Nachmittag warten dieselben Kinder weinend hinter der Wohnungstür: „Keiner kümmerte sich“, sagt Frau S. heute. „Ich war große Schwester, Mutter, Seelentröster, alles in einem.“ Freunde? Geburtstagspartys? Das gab es nur für andere Kinder.


 

Angst vor seiner Stimme – 

eine Kindheit im dauernden Schatten der Bedrohung

Der Vater hat eine jähzornige Stimme, die schon beim ersten Laut Spannung in winzige Knie drückt. An einem Abend eskaliert der Streit. Der Vater schlägt, die Mutter weint, bis sie gar nicht mehr weint.

„Ich war elf. Ich stellte mich dazwischen, ganz ruhig. Ich dachte: lieber mich als sie.“

Er trifft sie. Sie spürt keinen Schmerz, nur Kälte – und eine Erkenntnis: Dieser Mann gehört nicht mehr zu mir. Er hatte ihren Vornamen ausgesucht; von diesem Abend an fühlt er sich an wie ein Brandzeichen.


 

Die Mutter, die in Wirklichkeit kein Opfer war

Jahre später, Frau S. studiert bereits, fährt sie für ein Seminar über häusliche Gewalt nach Hause. In der Tasche drei eng beschriebene Seiten: ihre Kindheitschronik. Sie erwartet Tränen der Mutter, vielleicht Dank. Stattdessen geschieht das:

„Schutz?“, schreit die Mutter. „Du hast ihn nur gereizt!
Hättest du ihn gelassen, hätte er mir eine Ohrfeige gegeben und gut.
Du bist schuld an unserer schlechten Ehe!“

Die Worte sind wie ein Messerstich. „Haben wir dich etwa verhungern lassen?“ fragt die Mutter. Da begreift Frau S., dass die Frau im Bett nie Opfer, sondern Teil des Systems war. Sie packt, geht, kommt nie wieder.


 

Ein Name wie ein Splitter

Die Jahre vergehen. Frau S. schließt ihr Studium ab, arbeitet, verdient eigenes Geld, doch der Vorname brennt. Jeder Behördenbrief, jede Telefonvorstellung ruft den Vater und die Schuldzuweisung der Mutter zurück. Als das reformierte Namensänderungsgesetz 2025 die Hürden senkt, fasst sie Mut zum Antrag.

Im psychologischen Fachgutachten rekonstruiert sie die Kindheit: Parentifizierung, Gewalt, Verleugnung. Traumadiagnostische Verfahren belegen Hypervigilanz; beim Hören ihres alten Namens schnellen Puls und Muskeltonus hoch. In einer Imaginationsübung spricht sie den selbstgewählten Namen – die Werte sinken.

„Es ist, als öffne jemand ein Fenster“, sagt sie. „Frische Luft statt Kellergeruch.“

Die psychologische Sachverständige attestiert: Der Name ist ein konditionierter Trauma-Trigger – seine Ablösung lindert Symptome, stärkt Identität. Die Behörde folgt, genehmigt die Änderung.


 

Freiheit in sieben Buchstaben

Als der Bescheid kommt, ruft sie ihre beste Freundin an. „Sag ihn laut“, bittet die Freundin. Der neue Vorname klingt weich, hat sieben Buchstaben, keine Erinnerung an Fäuste. „Ich habe beide losgelassen, auch die traumatischen Geschichten, die sie beide für mein junges Leben geschrieben haben“, schreibt Frau S. später in einem Essay, „ich habe mich für mich selbst und einen eigenen Weg entschieden – vom Ausdruck meiner Kindheit mit Angst und ständigem Bedrohungsgefühl in Richtung eines Lebens für mich, eine Entscheidung für mich und meinem eigenen Lebensweg.“

Heute leitet sie Workshops zur Kunst der Emotionsdarstellung in Gemälden. Kinder hat sie keine – vielleicht wird das eines Tages anders, vielleicht auch nicht. „Ich muss nichts beweisen“, sagt sie, „ich darf einfach leben.“


 

Was wir aus Frau S.’ Geschichte lernen

  1. Traumatische Bindungserfahrungen hinterlassen tiefe seelische Spuren – professionelle Aufarbeitung ist kein Luxus, sondern Überlebensarbeit.
  2. Ein Vorname kann zum Flashback-Auslöser werden; seine Änderung ist dann keine Laune, sondern Therapiebaustein.
  3. Psychologische Fachgutachten, die Biografie, psychologische Diagnostik, und Prognose verknüpfen, geben Behörden eine stichhaltige Entscheidungsgrundlage – und Betroffenen eine Stimme.

 

So endet die Geschichte nicht in einem glänzendem Familienfoto, sondern in realistischer Selbstbestimmung: 

Am Ende steht eine Frau, die ihr Schweigen bricht und ihre Stimme wiedergefunden hat. Sie schreibt ihre Biografie auf – Satz für Satz, Buchstabe für Buchstabe, ihr neuer Vorname gibt ihr die Kraft, vergangenes aufzuarbeiten und weiter zu gehen.