Berufsunfähigkeitsgutachten bei psychischen Erkrankungen – Leitlinien, Methodik und aktuelle Rechtsprechung
Psychische Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder Erschöpfungssyndrome sind inzwischen die häufigste Ursache für Anträge auf Berufsunfähigkeit. Jede dritte Frühberentung geht nach Angaben der Rentenversicherung auf ihr Konto. Damit Gutachter, Versicherer und Gerichte diese komplexen Fälle einheitlich bewerten können, wurden in den letzten Jahren gleich mehrere fachliche und rechtliche „Leitplanken“ eingezogen.
Leitfäden und Standards
Den Kern bildet der S2k-Leitfaden der DGPPN zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen. Er definiert vier Prüfschritte – von der Erfassung der Funktionsstörungen über Krankheitsverarbeitung und Aktivitäten bis zur Prognose – und verlangt eine systematische Beschwerdenvalidierung, um Über- oder Untertreibungen aufzudecken. Gutachter sollen klinische Interviews (etwa SKID-I/II), strukturierte Leistungstests und Fremdanamnesen kombinieren, bevor sie die berufliche Leistungsfähigkeit in Prozent ausdrücken.
Rechtsprechung: wichtige Wegmarken
- BSG 22. 06. 2023, B 2 U 11/20 R – Erstmals erkennt das Bundessozialgericht eine posttraumatische Belastungsstörung als Berufskrankheit an. Damit ist geklärt, dass auch nichtkörperliche Risiken bei der gesetzlichen Unfallversicherung versichert sein können; Gutachten müssen nun explizit prüfen, ob ein „wesentliches Ereignis“ am Arbeitsplatz vorlag.
- OLG München 01. 08. 2024, Endurteil – BU-Versicherung – Das Gericht bestätigt, dass Versicherer die Rente einstellen dürfen, sobald die gutachterlich festgestellte Einschränkung unter 50 % sinkt. Entscheidend sei die „vollschichtige Tätigkeit“ im zuletzt ausgeübten Beruf, nicht eine beliebige Restfähigkeit.
- OLG Hamburg 2025, Restschuldversicherung – Ausschlussklauseln für psychische Erkrankungen sind zulässig, sofern sie klar und verständlich formuliert sind. Gutachten müssen deshalb nicht nur das Ausmaß der Beeinträchtigung, sondern auch die Versicherungsbedingungen würdigen.
Methodische Schlüsselpunkte im Gutachten
- Mehrdimensionalität: Das Leistungsvermögen ergibt sich aus der Wechselwirkung von Symptomen, individueller Verarbeitung und Umweltfaktoren; reine Diagnoselisten reichen nicht mehr aus.
- Objektivierung: Neurokognitive Tests (z. B. TMT, d-2-R), Verhaltensbeobachtung und Fremdanamnese dienen der Plausibilitätsprüfung subjektiver Angaben.
- Prozentskala: Die berufliche Restfähigkeit wird in 10-Prozent-Schritten geschätzt; ab 50 % gilt die Person in den meisten Versicherungsbedingungen als berufsunfähig.
- Transparenz: Jede Annahme (etwa Leistungsprognose) muss auf Studien- oder Leitfadendaten verweisen, damit Gerichte den Gedankengang nachvollziehen können.